Tugend, Werte, Charakter


Viel wird in den (ost-)asiatischen Kampfkünsten über Werte und Tugenden gesprochen. Man kann bisweilen den Eindruck gewinnen, dass das Training einer Kampfkunst automatisch einen besseren Menschen aus einem macht. Es gibt fast keine Tugend, die nicht mit einer Kampfkunst in Verbindung gebracht wird. Hier ein Auszug:

  • Demut
  • Höflichkeit
  • Ehrlichkeit
  • Achtung
  • Bescheidenheit
  • Gerechtigkeit
  • Weisheit
  • Respekt
  • Unbezwinglichkeit
  • Vertrauen
  • Liebe
  • Aufrichtigkeit
  • Pietät
  • Integrität

Leider habe ich in den nun 22 Jahren meiner Laufbahn nicht den Eindruck gewonnen, dass es in den japanischen, koreanischen und chinesischen Kampfkünsten überdurchschnittlich viele tugendhafte Meister gibt, weder im Orient noch im Okzident. Werte werden natürlich auch dadurch transportiert, dass sich Trainer vorbildhaft verhalten und dass das Training gewissen Regeln folgt. Ich will nicht bestreiten, dass ein Potenzial da ist, aber nur weil man Kampftechniken trainiert, wird man noch lange nicht ehrlicher oder bescheidener.

Als ich zum Beispiel das hervorragend recherchierte Buch über Tae Kwon Do “Tödliche Kunst” las, war ich regelrecht schockiert darüber, wie geradezu tugendlos und unmenschlich sich viele Meister in der Vergangenheit verhalten haben.

Auch im Kapitel “Schwarzer Gürtel, schmutziges Geld (hier die deutsche Übersetzung frei Haus)” aus dem Buch “The New Lords of the Rings: Olympic Corruption and How to Buy Gold Medals” liest man so einige Dinge, die einen schwer nachdenklich stimmen.

Mit diesen beiden Beispielen soll nicht gezielt das Taekwondo getroffen werden. Ich habe mich aufgrund meiner eigenen Biographie einfach am meisten mit dieser Kampfkunst auseinandergesetzt und kenne daher die entsprechende Literatur am besten. So weit ich durch Gespräche mit diversen befreundeten Meistern und Trainern weiß, geht es in einigen anderen Kampfkünsten und Kampfsportarten hinter den Kulissen ähnlich zu. Dazu kenne ich allerdings keine Bücher, die mit den beiden oben erwähnten vergleichbar wären.

Tugenden, die in meinen Augen allerdings tatsächlich durch Kampfkunst gefördert werden, sind

  • Geduld
  • Durchhaltevermögen
  • Selbstdisziplin

Zugegebener Maßen sind sie mehr oder weniger synonym zueinander.

Der Grund liegt einfach darin, dass man sehr lange braucht, bis die Grundtechnik dem Ideal einigermaßen nahe kommt. Insofern werden diese Charaktereigenschaften in Kampfkünsten mit vielen und schwierigen Grundtechniken besonders gefördert. Je formalisierter eine Technik ist und je mehr Formen* man übt, desto mehr Geduld und Durchhaltevermögen braucht man wohl, denn die Fortschritte sind oft nur sehr klein.

Das bedeutet nicht, dass nur klassische oder traditionelle asiatische Kampfkünste solche Werte vermitteln können. Es bedeutet nicht einmal, dass das nur Kampfarten (inklusive europäischer Stile) können. Viele Wege führen nach Rom (oder nach Seoul). Die naheliegendsten Werte, die man mit Taekkyon und anderen Kampfkünsten vermitteln kann, sind jedoch diese drei. Wie heißt es so schön:

“Die drei Geheimnisse der Kampfkunst: Üben, üben, üben.”

Insofern wäre es vielleicht ratsam, es bei diesen Werten zu belassen und sie richtig zu verfolgen, bevor man nach den Sternen greift und all die anderen Werte ins Training integrieren will. Vielleicht ist Weniger an dieser Stelle Mehr. Als Trainer bzw. Lehrer rede ich im Training nicht viel darüber, was man tun oder lassen sollte. Mir ist es lieber, geerdet zu bleiben. Insofern bin ich froh darüber, dass Taekkyon nicht zu einer philosophischen Angelegenheit erklärt wurde. Wenn jemand zehn oder mehr Jahre trainiert und schließlich mit seiner Entwicklung zufrieden ist, wird er verstehen, welcher Wert in der Geduld liegt. Reden ist Silber, Handeln ist Gold!

* kor. Holsaegim, Hyeong (Hyong) oder Pumsae; jap. Kata; chin. Xing (Hsing)

  1. #1 by Tamerlan on 04/02/2013 - 00:22

    Schöne Thema :) Da hast Du Recht, mit dem Erlernen von Kampftechniken, bekommt man keine Tugend. :)

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