Tanzen in der Selbstverteidigung?

Taekkyon hat zwei Seiten, die sich wie Yin und Yang ergänzen. Die eine Seite ist freundschaftlich, tänzerisch, voller Lebensfreude und Spaß. Wir sehen diese Seite vor allem im traditionellen Wettkampf (Gyeorugi), aber auch in den ersten sechs kooperativen Partnerübungen, in denen die beiden Partner in unserem tänzerischen Grundschritt (Pumbalbgi) versuchen, möglichst harmonisch und rhythmisch ihre Techniken “auszutauschen”. Meistens werden diese Übungen und Wettkämpfe gezeigt, weshalb die Zuschauer heute und auch früher Taekkyon vor allem für einen Sport oder ein Spiel halten. Natürlich ist dieses Merkmal sehr typisch für Taekkyon und unterscheidet es von allen anderen Kampfsportarten bzw. Kampfkünsten.

Die andere Seite des Taekkyon ist kämpferisch, martialisch und kann sehr gefährlich sein. Nur selten werden diese Techniken in Demonstrationen oder auf Internetvideos gezeigt. Sie steckt allerdings auch schon in den Techniken, die in den Partnerübungen und im Wettkampf trainiert werden.

Auch der Wettkampf an sich hat zwei Seiten: Einerseits will man den Gegner nicht verletzen und verzichtet auf gefährliche Aktionen. Andererseits will man aber auch gewinnen und verteilt keine Geschenke an den Gegner. Man versucht also, sich durchzusetzen, aber nicht mit allen Mitteln. Genau das ist es, was mir am Taekkyon so gefällt: Es ist ausgeglichen.

Immer wieder werde ich gefragt, ob man sich als Taekkyon-Kämpfer im Selbstverteidigungsfall tänzerisch bewegt. Schließlich verbringen wir einen relativ großen Teil der Trainingszeit damit, Pumbalbgi, unseren tänzerischen Grundschritt, zu üben.

Selbstverständlich passt man sich als immer der konkreten Selbstverteidigungssituation an, egal welche Kampfkunst man trainiert. Im Ernstfall kann es um Leben und Tod gehen und daher kann es kein Gebot geben, irgendeine bestimmte Technik oder einen bestimmten Schritt zu verwenden. Taekkyon als Selbstverteidigung ist völlig frei, man kann jede Technik anwenden oder eben auch nicht. Dazu trainieren wir nicht nur die Techniken, die man normalerweise in Internet-Videos sieht, sondern auch alle Arten von Handtechniken, Dirty Tricks, Kopfstößen usw. Eben alles, was im regellosen Kampf nützlich sein kann.

Ein Taekkyon-kkun wird sich wahrscheinlich automatisch mehr oder weniger tänzerisch und fließend bewegen, wenn er angegriffen wird. Allerdings nur in einem Rahmen, der jeweils sinnvoll ist und auch nicht zwingend.

Eine Besonderheit des Taekkyon unter den Kampfkünsten ist, dass man sich nach dem Erlernen einiger Grundtechniken zunächst mit dem Wettkampf nach bestimmten Regeln beschäftigt und auf dieser Grundlage dann als Fortgeschrittener „freieres“ Kämpfen lernt. Diese Besonderheit kommt unter anderem daher, dass man in früheren Jahrhunderten meistens als Kind mit „Aegi-Taekkyon“ (Kinder-Taekkyon) anfing. Dieses Taekkyon kann man am ehesten als Kampfsport-Spiel beschreiben. Die Regeln unterschieden sich zwar nicht von denen der Erwachsenen, aber natürlich wenden Kinder andere Techniken und Strategien an als die Großen. Das ist in etwa vergleichbar mit einem Fußballspiel unter Zehnjährigen auf dem Schulhof und der Bundesliga. Die Kinder trainierten damals unter sich und lernten Taekkyon auf eine ganz natürliche Weise

Erst später, manchmal erst nach vielen Jahren, begannen die Kinder von damals als Jugendliche oder junge Erwachsene eine „richtige“ Ausbildung bei einem Lehrer. Song Dokki zum Beispiel spielte Taekkyon als Kind zwischen seinem 13. und 18. Lebensjahr, bevor er zu Im-Ho ging und von diesem auch jene Techniken lernte, die im Wettkampf verboten sind (wir nennen sie heute „Yet Beop“, also „alte Methoden“).

Auf diese Art und Weise führt eine heutige Taekkyon-Ausbildung zunächst Schritt für Schritt an den Wettkampf heran, bevor es dann um die Selbstverteidigung geht. Dies hat den Vorteil, dass man zunächst ausgiebig seinen „Kampfgeist“ entwickeln kann. Man lernt im Wettkampf nicht nur, bestimmte Techniken anzuwenden, sondern auch, sich gegen einen unkooperativen Gegner durchzusetzen. Sehr wichtig ist es auch, das richtige Timing und Distanzgefühl zu entwickeln und zu lernen, wie man sich generell bewegen muss. Es wird einem schnell klar, welche Stellungen und Schritte Vorteile haben – und zwar nicht durch bloße Theorie, sondern durch Erfahrung.

Der Gyeorugi (Taekkyon–Wettkampf) hat wie jeder Kampfsport ein bestimmtes Regelwerk. Das gilt nicht, wenn man auf der Straße oder – und diese Möglichkeit wird häufig vergessen – zu Hause angegriffen wird. Im Gyeorugi darf man zum Beispiel nicht mit Faustschlägen angreifen, was auf der Straße ganz anders ist. Deswegen kann man, wenn man sich denn auf derartige Angriffe vorbereiten will, das Gyeorugi-Regelwerk zum Beispiel durch Handschläge erweitern. Dadurch wird es schon zu einem recht freien Sparring, denn nun ist bereits eine große Zahl an Angriffstechniken und Methoden erlaubt (Tritte von den Knöcheln bis zum Scheitel, Schläge, Würfe, Hebel etc.).

Die Ausgangsfrage war, ob man sich als Taekkyon-kkun im Ernstfall tänzerisch bewegt. Die kurze Antwort lautet also: Es kommt darauf an.

Ich habe anfangs auf die zwei Seiten des Taekkyon hingewiesen. Pumbalbgi hat vor allem eine große Bedeutung für die faire und sportliche Seite des Taekkyon. Durch Pumbalbgi kommt man in einen sehr schönen Fluss mit dem Partner und kann von hier fast wie beim Tanzen improvisieren und in neue Positionen weitergleiten. Macht einfach Spaß.

Pumbalbgi hat aber auch viele Vorteile, um kämpfen zu lernen und das ist auch für “die Straße” relevant:

  1. Man lernt eine profunde Schrittarbeit, aus der heraus man sehr dynamisch agieren kann.
  2. Man bleibt nicht statisch, weswegen man gut ausweichen kann und generell schwer zu treffen ist.
    Wenn man “steif” steht, sieht der andere den Ansatz einer Bewegung früh. Wenn man durch Gumshil ständig fließend in Bewegung ist, sieht man die einleitende Bewegung nicht so schnell. Bewegungen sind somit für den Gegner schwieriger zu antizipieren. Anfänger denken häufig, dass Gumshil sozusagen einen Tritt ankündigt und man daher nicht so überraschend agieren kann. Wenn man etwas Übung hat, ist aber das Gegenteil der Fall.
  3. Es ist meiner Erfahrung nach auch energiesparender, wenn man mehr aus dem Knie heraus arbeitet als aus dem Sprunggelenk. Das mag daran liegen, dass das Sprunggelenk relativ klein ist und die beteiligten Muskeln entsprechend im Vergleich zum Knie relativ schwach.
  4. Wie auch andere Kampfarten lehren, steht man stabiler, wenn man mehr aus dem Knie als aus dem Sprunggelenk heraus arbeitet.
  5. Mit Gumshil lernt man, sein Körpergewicht in Schläge einzubringen.
  6. Gumshil bringt uns bei, unserere Füße zu heben. Je nach Terrain kann man keine gleitenden oder schleifenden Schritte machen.
  7. Gumshil lockert unsere Knie. Viele Menschen gehen mit steifen Knien und Gumshil wirkt dem entgegen. Dadurch wird unsere bewegung insgesamt flüssiger. Wenn wir uns flüssiger bewegen, sind wir weniger verspannt – ein großer Vorteil im Ernstfall.
  8. Durch Pumbalbgi haben wir außerdem Beinkräftigung und ständigen Auslagenwechsel (womit man gegner auch ziemlich überraschen kann). Man trainiert gleichermaßen beide Seiten (und Koordination).
  9. Beim Taekkyon Gyeorugi (Wettkampf) gibt es die Gefahr, dass ein Tritt gefangen wird und man dann vom Gegner geworfen wird. Das ist relativ selten unter Kampfsportarten. Somit lernen wir, beim Treten sehr vorsichtig zu sein und eignen uns “sichere” Tritte an. Pumbalbgi unterstützt diese Art des “sicheren Tretens”.
  10. Durch Pumbalbgi wird vermieden, dass man auf der Stelle stehen bleibt. Dynamische Fußarbeit eignet sich für den Kampf besser.